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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

presseartikel24. 6. 1954 → Anzeichen
ortografie.ch ersetzt sprache.org ortografie.ch ersetzt in zukunft sprache.org

Die Tat, , 19. jg., nr. 170, s. 4, Zürich, worttrennung am zeilenende durch den brauser

Anzeichen des deutschen Kulturzerfalls

Stuttgart. () Die Empfehlungen für eine deutsche Rechtschreibereform, die von der deutsch-österreichisch-schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege ausgearbeitet worden sind, wurden am Montag in Stuttgart veröffentlicht und damit zur allgemeinen Diskussion gestellt.

Nach dem Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft soll im Frühjahr 1955 eine große Konferenz der beteiligten Länder über die Vereinfachung der gegenwärtigen deutschen Rechtschreibung zusammentreten und Beschlüsse fassen.

Die Arbeitsgemeinschaft empfiehlt die gemäßigte Kleinschreibung aller Wortarten. Die großen Anfangsbuchstaben sollen nur für den Satzanfang, für Eigennamen, für Fürwörter der Anrede und für bestimmte Abkürzungen beibehalten werden. Auch der Name Gottes und andere Bezeichnungen für ihn (z. B. der Herr) sollen weiterhin groß geschrieben werden. Nach den weitern Vorschlägen, die insgesamt in acht Punkten zusammengefaßt sind, sollen die Buchstabenverbindungen vereinfacht werden. Für «tz» wird «z» vorgeschlagen (z. B. Spitzen — spizen). Das scharfe «S» soll in Antiqua mit «ss» geschrieben werden. Im Gegensatz zu andern Konsonanten sollten aus Gründen der Deutlichkeit drei aufeinanderfolgende «s» immer ausgeschrieben werden (z. B. grossstadt).

Die Arbeitsgemeinschaft empfiehlt, Fremdwörter mehr als bisher an die allgemeine Schreibweise anzugleichen. In Zukunft sollten ersetzt werden ph durch f (fotograf), th durch t (teater) rh durch r (katarr), kurzes unbetontes y durch i (zilinder). Die Buchstabengruppe ti solle, soweit sie «zi» gesprochen wird, auch so geschrieben werden (nazion, sensazion). Das C in Fremdwörtern soll je nach Sprechweise wie z, k, s oder ss, das V wie w, das eu wie ö (frisör), das ou wie u (turist) usw. geschrieben werden.

Schließlich empfiehlt die Arbeitsgemeinschaft eine Vereinfachung der Zeichensetzung. Das Komma solle sparsamer als bisher gesetzt werden, vor allem solle es vor «und» und beziehungsweise «oder» bei gleichgeordneten Hauptsätzen sowie vor allen Infinitivgruppen» zu, um zu, ohne zu» wegfallen.

Ueber diese Vorschläge hinaus hat die Arbeitsgemeinschaft besonders eingehend geprüft, wie die unterschiedliche Schreibweise des langen Vokals (mir — Tier — ihr, Tod — Boot — ohne) vereinheitlich werden könnte.

Doppelvokale sollen nach den Vorschlägen zur Unterscheidung gleichklingender Wörter beibehalten werden (Meer — mehr). Das Dehnungs-H soll nur nach e bestehen bleiben (dehnen — denen). Nach andern Vokalen sei es außer in Fällen wie ihm — im entbehrlich. Ie solle ausgenommen vor ss zu i werden.

Die Arbeitsgemeinschaft gibt bekannt, daß sie in ihren Empfehlungen nur die wichtigsten Reformwünsche berücksichtigt habe, die in den letzten Jahrzehnten in Aufsätzen, Denkschriften und Entschließungen geäußert worden seien.

Nachschrift der Redaktion

Die in allen kulturellen Dingen lebhaft und geschliffen Stellung nehmende Wiener Zeitschrift «Forum» hat auch diesem Stuttgarter Bombenteppich eine Glosse gewidmet (Heft 6). Sie spricht von «fundamentalen Neuerungsplänen, die infolgedessen aller Fundamente entbehren»; man sei sie gewohnt gewesen. Das stimmt. Bisher war etwa alle Maikäferjahre die Rede davon. Diesmal ist die Gefahr ernst.

Der deutsche Hang nach Reformationen am falschen Ort will sich wieder einmal auswirken: zwei christliche Bekenntnisse, zwei kämpfende Klassen — und jetzt zwei Schreibweisen (von denen die jüngere natürlich auch die ältere fressen will). Die «Sprachpfleger» — lucus a non lucendo — wollen es so, blind für Form, Tradition, organisches Wesen der Sprache. Mechanisten, Sprachmechaniker wollen die Worte zu roten Bällchen am Zählrahmen erniedrigen.

Aus «Forum»:

Dem Text der offiziellen Denkschrift, abgefaßt und approbiert auf der letzten, in Stuttgart stattgehabten Sprachpflegertagung, ist u. a. zu entnehmen, daß den Sprachpflegern außer Doppelkonsonanten und großen Anfangsbuchstaben vor allem die unterschiedliche Schreibweise gedehnter Vokale — wie etwa das i in «mir, Tier, Vieh, ihnen» — wenn schon nicht unfro fürs or, so doch überflüsig fürs auge vorkomt. inen vileicht. uns nicht, uns komt vilmer dise sprachreform tirisch vor. oder heist es viisch? wi imer dem sei: wir hofen, das di reformer mitsamt irer einheizortografi zur höle faren werden, und wir wolen nicht erst auf gotes mülen warten, um inen etwas zu malen (oder zu malen?). Es geht in unsern Lehrsälen ohnedies schon ziemlich seelenleer zu — aber das es in den lerselen selenler zuginge, were zu vil.

Die Presse und die Orthographiereform

Der Zürcher Presseverein

befaßte sich unter dem Vorsitz von Dr. Urs Schwarz (Zürich) an seiner Quartalversammlung vom Dienstag nach der Aufnahme einiger neuer Mitglieder ausschließlich mit der Frage der Orthographiereform.

Chefkorrektor W. Heuer hielt das einführende Referat. Nach dem Referenten werden Verlegerverein und Verein der Schweizer Presse nächstens eine Denkschrift erhalten mit der Einladung, sich mit der Rechtschreibereform zu befassen und sich an einer Konferenz vertreten zu lassen, die im Mai kommenden Jahres in Wien stattfinden wird.

Nachdem der Referent über die bisherige Geschichte der Reformbestrebungen in Deutschland, Oesterreich und der Schweiz in neuester Zeit gesprochen und die letzte durchgeführte, relativ einfache Reform von 1901 skizziert hatte, stellte er die mit der jüngsten Konferenz vom 15./16. Mai in Stuttgart geschaffene Lage ausführlich dar. Wenn der Referent es auch nicht als seine Aufgabe betrachtete, für oder gegen die neue deutsche Sprachreform Stellung zu nehmen, stellte er doch fest, daß die schweizerischen Vertreter in ihrer Mehrheit an den Tagungen nicht ganz ohne Erfolg für besonnenes Maßhalten eingetreten seien und eine sachliche Auseinandersetzung wünschten.

Eine teilweise Vereinfachung hätte bestechende Argumente für sich. Sie würde das Schreiben erleichtern, nicht aber das Lesen, und eine Quelle von Mißverständnissen darstellen. Wenn die berufenen Hüter der deutschen Sprachkultur diese Dinge befürworteten, hätten sich die Buchdrucker daran zu halten, auch wenn die Uebergangsschwierigkeiten groß sein würden. Eine Reform aber, die in weiten Kreisen auf Ablehnung stoße, wäre für die Buchdrucker unerträglich. Die Verhältnisse in der Schweiz seien nicht ganz so, wie sich das Ausland sie vorstelle. Wir hätten in der Schweiz kein Sprachamt. Der Bund könnte höchstens für seine Kanzleien und für seine Regiebetriebe Sprachvorschriften aufstellen. Für die Schulen seien die Kantone zuständig. Kein Journalist, kein Schriftsteller und kein Inserent aber könne auf die neue Orthographie verpflichtet werden. Wir hätten nicht nur auf Jahre, sondern auf Jahrzehnte hinaus zwei grundverschiedene Orthographien nebeneinander. Die Setzer müßten beide beherrschen. Für das Buchdruckergewerbe sei eine Rechtschreibung nur diskutabel, soweit sie allgemeine Zustimmung finde. Der Referent erwartet von der deutschsprachigen Schweiz eine übereinstimmende Haltung, damit sie am kommenden Wiener Kongreß geschlossen dastehe.

In der anschließenden Diskussion, die sich auf die vorgelegten Leseproben stützte, stießen die Vorschläge der «Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege» 1954 auf starke Kritik und die ganze Angelegenheit wurde als so wichtig bezeichnet, um von den gegebenen Vereinsinstanzen ohne Verzug behandelt zu werden.

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